Auf Dienstreise!

11.02.2019

Autor: Nick Thräne

Ich war von der Firma "Blechmann und Partner" für einen Vortrag an die Nordsee eingeladen. Die machten dort ihre jährlichen "Wellnessfirmentage" und ich sollte ihnen gleich am ersten Tag ihrer Arbeitsexkursion mit Erholungsfaktor etwas über Projektmanagement erzählen.

... Nordsee. ... Passte. ... Ich freute mich.

In letzter Zeit hatte ich sehr viel gearbeitet und nahm mir vor, einen Tag eher zum Vortrag anzureisen. Mal ausspannen, ein wenig am Deich spazieren gehen, beim Beobachten der Wellen über den Sinn des ... egal ... nachdenken, in Ruhe im Restaurant zu Abend essen, im Zimmer fernsehen und dann schön schlafen. What a perfect day!

Nach 6,5 Stunden Autofahrt - die laut Navi lediglich 3,5 Stunden dauern sollten - drei Staus, zwei Umleitungen über die entlegensten, wahrscheinlich noch nicht einmal kartografierten Landstraßen, zeitweiligem Verlust der Orientierung und mehrmaligem Versagen des Navis kam ich am Sonntag gegen 16 Uhr an der Nordsee im "Wellnesshotel am Deich" an.

Ein schönes Hotel und gleich hinterm Deich, dachte ich und stieg aus dem Auto. Just in diesem Moment begann es in Strömen zu regnen. So viel zum Deichspaziergang. Dann eben schön im Restaurant etwas essen.

An der Rezeption bekam ich meinen Schlüssel und einen Gutschein für eine Massage. Auf meine Nachfrage, womit ich den Gutschein verdient habe, teilte mir die junge Dame mit, dass das der Ausgleich für das heute geschlossene Restaurant sei. "Is' ja nicht weiter schlimm", sagte ich großzügig, es gibt bestimmt andere Restaurants im Ort. "Schon", bekam ich zur Antwort, "nur nicht am Sonntag, und dann auch noch außerhalb der Saison."

Drei Minuten Pause!

"Es gibt eine Tankstelle hier gleich um die Ecke", platzte es alsdann hörbar stolz aus der Rezeptionistin heraus. Ich müsse mich allerdings beeilen, fügte sie schnell hinzu, weil die Tanke um 17 Uhr schließen würde.

Nach genau 42 Minuten, um 16.55 Uhr und mehreren - die wahrscheinlich sehr üppigen Bußgelder absolut billigend in Kauf nehmenden - Geschwindigkeitsüberschreitungen erreichte ich die dann doch 20 Kilometer entfernte, "um die Ecke liegende" und wirklich um 17 Uhr schließende Tankstelle.

Die Dame in der Tankstelle war gerade damit beschäftigt, ihre Habseligkeiten einzusammeln und den Ort meines Verlangens zu verlassen. Als sie mich sah, winkte sie mich sehr freundlich zu sich heran. Ihr Arbeitsplatz bestand aus einem ca. vier Quadratmeter großen Kassen- und Regalrefugium. Ich hielt das für das Vorzimmer und fragte nach dem Teil des Hauses, in dem ich mich prächtig zum Abendessen eindecken könnte. Sie sah mich entgeistert an und verwies wortlos auf das Regal hinter sich: zwei Brötchen, drei Minisalami im Teigmantel, ein Sixpack Flensburger Pilsner und vier Schokoriegel. Das nehme ich, und zwar alles. "Bitte packen Sie mir alles ein", sagte ich ohne zu zögern. Mein Blick war dabei auf die Eingangstür gerichtet, um mögliche Mitbewerber um die letzten Lebensmittel im Norden in die Flucht zu schlagen. Die Tüte für mein üppiges Menü bekam ich geschenkt.

Zurück im Hotel.

Ohne die Rezeptionistin eines Blickes zu würdigen, schlurfte ich mit meiner Tankstellenbeute Richtung Fahrstuhl. Kurz vor dem Fahrstuhl erreichte mich der Ruf, dass ich die Treppe benutzen müsse, weil der Fahrstuhl außer Betrieb sei, und dass mein Massagetermin morgen früh um 9 Uhr sei und ob mich das denn freuen würde und in meinen Plan passen würde.

Ich dachte überhaupt nicht daran, mich zu der Ruferin umzudrehen. Ich winkte lediglich enttäuscht ab und hoffte damit zum Ausdruck gebracht zu haben, dass das hier bisher alles so gar nicht meinem Plan entsprach.

Mein Zimmer war ca. 7 Meter lang und 4 Meter breit. Es bestand aus einem Stuhl mit Beistelltisch, einem Doppelbett an der hinteren Wand und einem Fernseher an der vorderen Wand neben der Eingangstür. Und das war es an Einrichtungsgegenständen. Der Fernseher hatte die Größe einer Gegensprechanlage. Es war völlig unmöglich, vom Bett aus das Bild zu erkennen. Na ja, egal, sagte ich mir, gucke ich eben auf dem iPad einen Film.

Zuerst aber schön in die Wanne.

Die Geräumigkeit des Zimmers verführte mich zu dem Gedanken, dass das Bad ebenfalls raumtechnisch so üppig wie das Zimmer sein könnte. Ich mag geräumige Bäder.

Zwei Türen zu meiner Linken standen mir für die Überprüfung dieser These zur Verfügung. Hinter der ersten Tür entdeckte ich ein Waschbecken und die Toilette. Klein, aber man passte rein. Ich mutmaßte, dass sich hinter der zweiten Tür die Wellnessoase oder die Wanne oder wenigstens eine Dusche befinden müsse. Aber ... da war nichts, nur ein leerer Raum mit Rohren, die aus dem Boden ragten.

Aus Hoffnung wurde Unmut. Ich nahm den Telefonhörer ab und wollte mich mal tüchtig bei der Empfangsdame beschweren. Das Telefon jedoch gab keinen Laut von sich.

So konnte das nicht weitergehen, beschloss ich. Ich stapfte für eine offizielle Beschwerde zum Empfang.

Scheinbar hatte die Schicht gerade gewechselt und ich wurde von einem jungen Mann mit einem lässigen "Moin" begrüßt. Ohne Gegengruß, ein Versuch, meinem Unmut durch Unhöflichkeit mehr Ausdruck zu verleihen, stellte ich in Kurzfassung die Geschehnisse der letzten Stunden dar: Stau, Regen, kein Deichspaziergang, Tankstelle "um die Ecke", kein leckeres Abendessen, kein Fernseher, keine Möbel, nix zum Duschen und kein Telefon.

"Jaaaaa", sagte der Hotelmitarbeiter in nordischem Tempo, "und Internet haben wir auch noch nicht", was nicht so gut sei, weil auch der Mobilfunk hier regelmäßig versagen würde. Ich sah auf mein Handy: "Kein Dienst"! Kein Dienst? Also auch kein Film auf dem iPad! Ich fügte diesen Aspekt meiner Liste für einen nicht perfekten Tag hinzu.

Mein Gesichtsausdruck, verbunden mit schweigender Bewegungslosigkeit, schien dem Kollegen eine Erklärung abzunötigen. Er berichtete mir, dass sich das Hotel gerade noch im Probebetrieb befinden würde, aber man wohl selbst dafür etwas voreilig gehandelt habe. Die einzige Entschädigung, die er mir bieten könne, sei eine schöne Massage, gleich morgen früh. Ich ging. Eine Antwort auf das Massageangebot blieb ich schuldig.

Trotz oder gerade weil es keine modernen Kommunikations- und Unterhaltungsmöglichkeiten gab, hatte ich sehr gut geschlafen. Das Frühstücksbüfett bestand aus sage und schreibe acht Sorten Müsli, fünf Sorten Milch - jedenfalls glaubte ich das. Eigentlich waren es eher weiße Flüssigkeiten, die so aussahen wie Milch, laut den Beschriftungen aber ganz anders hießen: sechs Sorten Körnerbrötchen, drei scheinbar experimentelle Marmeladensorten - eine war mit Kresse - und zwei Sorten vegetarische Wurst. Da wo "Rührei" dranstand, blickte ich lediglich auf eine weiße Masse. Ein scheinbar ernährungsbewussterer Hotelgast, als ich es bin, erklärte mir, dass das lediglich das Eiweiß sei. Sei gesünder und mache weniger Fett, klärte er mich auf. Da ich gegen die meisten Körner und gegen Laktose allergisch bin, bestellte ich mir einen Kaffee - der war hier auf Sojabasis - und aß meine letzten Schokoladenriegel von der Tankstelle.

Ohne überflüssiges Sättigungsgefühl ging ich zur Massage. Gerade dort angekommen, wurde ich mit einem wortlosen Handzeichen aufgefordert, in eine winzige Kabine einzutreten. An einer Wand der Kabine fand ich die schriftliche Aufforderung, dass ich mich mal bis auf die Unterhose freimachen solle. Irgendwie erinnerte mich das an meine letzte Darmspiegelung, nur dass es hier wesentlich besser roch. Ich nahm mir vor, auf jeden Fall auf der Hut zu sein und genau zu beobachten, was hinter mir passierte.

Als ich mich schlüpfertechnisch auf der Liege eingerichtet hatte, bekam ich ohne große Umschweife, gefühlt, einen Liter eiskaltes Aromaöl auf den Rücken geplempert. Ich konnte vor Schreck noch nicht wieder atmen, als ich hörte: "Das muss jetzt einziehen." Dann klappte eine Tür und ich war allein. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass sich so eine Ölsardine fühlen musste, kurz bevor der Deckel draufkommt.

Gegen Mittag trafen alle Kolleginnen und Kollegen der Firma Blechmann und Partner ein. Ich wurde freundlich begrüßt und sogleich zum gemeinsamen Mittagessen eingeladen. Es gab einen Kräutersalat mit Bärlauchdressing und danach Wellnessgemüse mit Hirtenkäse. Ich aß alles auf und war stolz darauf. Im Regelfall esse ich vor solchen Veranstaltungen eher nichts, weil ich immer recht aufgeregt bin. Heute jedoch hatte der Hunger die Aufregung besiegt.

Meinen Vortrag begann ich mit den üblichen Scherzen über die Leiden der Projektarbeit. Das "Publikum" ging mit. Ich freute mich. Gerade als ich dachte: Na, dann wird eben dieser Teil meiner Reise zu meinem schönsten Ferienerlebnis, verspürte ich ein lawinenähnliches Gefühl im Magen. Es folgten Krämpfe. Ich merkte, wie ich abartig zu schwitzen begann. Es war eindeutig: Das Wellnessgemüse war auf dem Weg zum Ausgang! Leicht gekrümmt und mit gequetschter Stimme verkündete ich spontan eine Pause, was nach ca. 5 Minuten Vortrag eher unüblich ist.Die Reaktionen meiner Zuhörer darauf nahm ich bereits nicht mehr wahr. Ich brauchte meine ganze Konzentration, um mit sehr kleinen, wohlüberlegten Schritten den Weg zur Toilette durchzuplanen.

Nach ca. 30 Minuten mit mehreren Rückrufaktionen in die Box kehrte ich von der Keramikabteilung zurück.

Am Ende meines Vortrags war auch mein blaues Hemd fast wieder trocken.

What a perfect day!