Café Lieblich

03.12.2018

Autor: Nick Thräne

Es war Freitag, der 28. Juli, 10 Uhr, und meine Frau Jenni, unser Sohn Tom und ich waren auf dem Weg in ein Café zum Frühstücken. Meine Frau erklärte uns, dass wir in das "Café Lieblich" gehen würden. Es sei die neue Attraktion im Kiez. Alle ihre Freundinnen seien schon dagewesen und hätten es ihr wärmstens empfohlen. Es sei sogar so begehrt, dass es eine Warteliste gebe, um überhaupt erst mal reservieren zu dürfen. Ich war etwas skeptisch. Schließlich kannte ich Jennis Freundinnen.

Auf unserer Caféhaus-Suche waren wir bereits vorbei an einem Stoffladen zum Selbstnähen, einem "Ökospielzeugladen - alles Natur" und einem Kinderwagen-Secondhand. Jetzt war die Straße zu Ende und kein Café Lieblich.

Für den zweiten Versuch nahmen wir uns vor, noch aufmerksamer zu suchen. Als wir wieder an dem Kinderwagen-Secondhand vorbeikamen, erschreckte Tom vor einem dort angebundenen Kläffer, der unerwartet, wie eine Zwergmoräne, hervorgeschnellt kam. Tom rettete sich, na ja, eigentlich eher den Hund, mit einem wagemutigen Sprung über den krakeelenden Staubwedel und landete rücklings in den Kinderwagen.

Siehe da, hinter den Trümmern der Kinderwagen kam in der Schaufensterauslage die Werbung des "Café Lieblich" zum Vorschein. Genau genommen war es eine handbeschriebene A4-Pappe mit Blümchen verziert.

Das Café maß ungefähr drei geräumige Wohnzimmer, war gepfropft voll mit Sesseln und Tischen in allen Größen, Formen und Farben, knallbunten Teppichen, und alle Frauen, Männer, Kinder und auch einige Haustiere waren irgendwie in Aufruhr. Wir standen auf Grund des geringen Platzangebots bewegungsunfähig in der Eingangstürnische und bemühten uns, das System des Caféhauses zu verstehen. Als Erstes versuchten wir die Gäste von den Mitarbeitenden zu unterscheiden, um nach unserer Reservierung fragen zu können. Aber? Keine Chance. Dann fragten wir einfach alle, die an uns vorbeikamen, nach unserem Tisch. Keine Antwort. Alsdann suchten wir nach Reservierungsschildern oder freien Tischen. Fehlanzeige. Also entschieden wir uns, einfach so auszusehen, wie wir uns fühlten: hilflos, hungrig, bemitleidenswert und ein bisschen dümmlich. Volltreffer. Eine freundliche junge Frau mit Rastalocken und vollem Mund gestikulierte uns in Richtung Toilette.

Auf dem Weg zu unserer Reservierung am Klo mussten wir über zahlreiche am Boden spielende oder die Teppiche abschleckenden Kinder steigen. Jedes überwundene Lebendhindernis bestätigte die erfolgreiche Übersteigung mit einem hellen Schrei, sprang vom Boden auf und lief kreischend hinter uns her. Ich holte gleich mal mein Handy heraus und maß die Lärmbelastung: 110 dB! Ich googelte sofort: 110 dB = "Rock-/Popkonzert mit einigem Abstand zur Bühne". Ich freute mich auf das Frühstück.

"Wir nehmen drei Mal das große Frühstück und zwei Cappuccino!", schrie ich der Frau mit dem Schreibblock an unserem Tisch durch die 110-dB-Geräuschkulisse zu. Dabei fiel mir auf, dass mir die Kellnerin nicht in die Augen sah, sondern gebannt auf den Mund. Wahrscheinlich konnte sie Lippen lesen. Womöglich das ausschlaggebende Einstellungskriterium für diese Frühstückskonzerthalle. Sie nickte tatsächlich wortlos und verschwand.

Sodann zog ein fünfköpfiger Trupp Dreijähriger mit Stofftieren auf den Schultern in Richtung Toilette an uns vorbei. Wir hatten echt tolle Plätze und freien Blick bis in die WC-Boxen für "groß" und erlebten live mit, wie die Stofftiere im Klobecken schwimmen lernten. Nachdem die Stofftiere dann auch noch tauchen geübt hatten, präsentierten die Nachwuchsschwimmlehrer ihre Schüler stolz an und manchmal auch auf den Tischen aller Gäste. Ich war glücklich, an dieser frühkindlichen Entwicklung teilgehabt zu haben. Noch glücklicher waren nur die entzückten Eltern.

Da das Frühstück wahrscheinlich erst per UPS geordert wurde, hatten wir weiterhin reichlich Zeit, unseren Blick über die anderen Gäste schweifen zu lassen. Am Nachbartisch saß ein Pärchen mit einem so winzigen Säugling, dass wir uns des Gedankens nicht erwehren konnten, dass die Eltern entweder gleich nach der Entbindung Appetit auf einen Tee hatten oder die Mutter in der Nacht direkt im Café entbunden haben musste.

Einen Tisch weiter unterhielten sich zwei junge Frauen lautstark über ihre "bescheuerten" Männer und über Verhütung. Dabei zeigten sie sich gegenseitig ihre geweihähnlichen Tätowierungen über dem Steißbein. Zwei etwa zweijährige Jungs mit hochrotem Kopf und glasigem Blick saßen ebenfalls in Hochstühlen an dem Tisch. Der Rothaarige versuchte seinen Zeigefinger in ganzer Länge in sein rechtes Nasenloch zu bekommen. Der Blonde war damit schon fertig und zog erwartungsvoll die Erfolge seiner Bohrung heraus. Diese anmutige Szene fand jedoch ein jähes Ende, als der Rothaarige dem Blonden mit raumbefeuchtender Intensität ins Gesicht nieste. Der Blonde antwortete darauf mit einem Hustenanfall. Die Arschgeweihmütter hingegen waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass ihnen der nahende gesundheitliche Zusammenbruch ihrer Kinder nicht weiter auffiel.

Die gute Nachricht war, dass die Cafébesitzer die Heizung herunterdrehen konnten. Das Heizen übernahmen ab sofort die beiden Kinder mit ihrer erhöhten Körpertemperatur. Vielleicht konnten die Muttis die Energieeinspeisung ihrer Kinder ja von der Rechnung abziehen lassen. Oder sie ließen sich die drei Kilowattstunden auszahlen und sparten das Geld für ein neues Tattoo oder eine Brustvergrößerung.

Als wir wieder auf die Uhr schauten, war es 13 Uhr. Wir beschlossen, zum Italiener um die Ecke zu gehen. Für unsere Frühstücksbestellung hinterließen wir eine Nachsendeadresse.