Es war Sonntag und wir hatten Gäste zum Brunch. Ich hatte Robert, einen ehemaligen Kollegen, und seine Frau Dörte mit ihrer neun Monate alten Tochter Mathilda eingeladen. Wir hatten uns seit der Geburt von Mathilda nicht mehr gesehen.
Es klingelte. Ich ging an die Wechselsprechanlage:
"Hallo."
Eine männliche, mir unbekannte Stimme antwortete in hohem Singsang-Ton: "Yes. It is Mathilda!"
Ich: "Hä?"
Dann eine sehr gereizte weibliche Stimme: "Mann, nun sag schon, hier sind Dörte und Robert!!!"
Ich drückte auf den Türöffner, und meine Frau Jenni und ich positionierten uns im Türrahmen zum Empfangskomitee.
Nach ca. fünf Minuten kam Dörte als Erste, leise vor sich hin fluchend, bei uns im dritten Stock an. Sie war wie ein Maultier mit zahlreichen Taschen vollgepackt. Das Erste, was sie total genervt rausbrachte, war: "So ein Baby ist schon eine echte logistische Herausforderung. Scheiß Schlepperei."
Etwas später hatte es dann auch Robert geschafft. Er hielt Mathilda auf dem Arm und strahlte entspannt in die Runde. Dörte schwitzte und schnappte nach Luft. Robert nicht.
Als Gastgeschenk überreichte uns Dörte eine Flasche Wein mit den Worten: "Hier, für euch. Wenn bloß erst mal die Stillerei vorbei ist und ich wieder an die Flasche kann!"
Wir mochten Dörte schon immer.
Robert hingegen schien Dörtes Bemerkung über Alkoholkonsum nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Er setzte zu einem längeren Vortrag über die Bedeutung des Stillens und die Gefahren von Alkohol für Kleinstkinder an.
Dörte nahm Jenni und mich am Arm und schob uns ins Wohnzimmer. Dabei flüsterte sie uns beiden kichernd zu, dass sie eigentlich jeden Tag darauf warte, dass Robert selbst versuchen würde, Mathilda zu stillen.
Robert folgte uns, seinen Vortrag unbeirrt zu Ende bringend.
Im Wohnzimmer begann Dörte, das Fläschchen für Mathilda zuzubereiten. Auch hier fühlte sich Robert genötigt einzugreifen. Er nahm Dörte die Flasche und alle anderen Babynahrungs-Hightechinstrumente aus der Hand und belehrte sie mit hochgezogenen Augenbrauen, dass sie doch wohl wissen würde, dass er es sei, der sich um die Mahlzeiten, die nichts mit ihren Brüsten zu tun hatten, kümmern würde. So wie sie es doch schon zigmal durchgesprochen hätten.
Mama Dörte und - ich schwöre - Baby Mathilda guckten sich an und verdrehten beide zugleich die Augen.
Nachdem Robert die Flasche fertig gemixt hatte, bat er um eine Wohnungsführung, damit sich Mathilda den besten Platz für ihr Fläschchen auswählen könne.
Jenni und ich schauten uns fragend an, trauten uns aber nicht, etwas einzuwenden. Robert ging derweilen schon mal mit Mathilda auf dem Arm los, Richtung Schlafzimmer. Jenni und mir war das etwas peinlich, weil wir die Betten nicht gemacht hatten, alle Klamotten von der Flurgarderobe einfach auf die Betten geschmissen und die Tür hinter uns zugemacht hatten. Zu Mathilda sagte er: "This is the sleeping room. Do you like to eat this?" Ich hielt das für einen echt guten Witz, lachte los und schlug ihm anerkennend auf die Schulter.
Er sah mich entgeistert an. Ich verstummte augenblicklich. In tragendem Tonfall klärte er uns dann darüber auf, dass sie sich entschieden hätten, dass ihr Kind mehrsprachig aufwachsen solle. Dörte winkte ab. Mathilda hingegen war unser Schlafzimmer und die enorme Unordnung ganz offensichtlich total egal. Ihr Interesse galt ausschließlich dem Fläschchen, mit dem ihr Vater ihr ständig vor der Nase herumwedelte und das sie versuchte zu erhaschen.
Nachdem Robert auch in allen anderen Zimmern gefragt hatte, ob Mathilda "diese essen möchte", beendete Mathilda die Sucherei mit entschlossenem Gebrüll nach ihrer Flasche. Sich in einem Sessel zurechtrückend bat Robert uns, einschließlich Mathildas Mutter, den Raum zu verlassen, weil das Kind nun Ruhe beim Trinken brauchte, und wir müssten mit ihm beim Brunch nicht rechnen, weil Mathilda sehr langsam trinken würde. Auch wäre es freundlich von uns, wenn wir eben noch klassische Musik auflegen und dann hinter uns die Tür schließen würden.
Wir gehorchten und machten uns ans Brunchen.
Dörte hatte sich gerade das erste Stück Melone mit Schinken genussvoll in den Mund geschoben, da stand Robert mit Mathilda schon wieder in der Tür. Mathilda musste die Flasche weggezogen haben wie ein Preisboxer nach einem 12-Runden-Kampf. Sodann eröffnete uns Robert, mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Wiederspruch zuließ, dass Mathilda nun müde sei.
Dörte wagte es trotzdem und warf ein, dass Mathilda aber gar nicht müde aussehen würde. Auch mir erschien ihr lebhaftes Strampeln eher ein Zeichen von Bewegungsdrang zu sein. Ich behielt diesen Gedanken jedoch lieber für mich. Robert sah diesmal über die Aussage von Dörte großzügig, also ohne Vortrag, hinweg. Gleichzeitig begann er alle Babyutensilien, wie Babydecke und Spielzeug, die Dörte vorbereitet hatte, einzupacken.
Meine Frau Jenni unternahm einen letzten Versuch, Robert mit einem liebevollen Hinweis auf das doch echt leckere Brunchbüfett und darauf, dass Dörte noch kaum etwas gegessen habe, zum Bleiben zu bewegen.
Robert erwiderte, dass er durch seine Tochter gelernt habe, weniger selbstsüchtig zu sein. Seinem Gewicht habe das übrigens sehr gutgetan. Dabei sah er Dörte, die gerade versuchte, wenigstens noch ein weiteres Stück Melone in den Mund zu bekommen, schulmeisterlich an.
Nachdem Dörte, Mathilda und die Überdosis Vater weg waren, gönnten Jenni und ich uns erst mal einen Schnaps. Okay, zwei. Was Robert wohl dazu gesagt hätte?
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