Raststätten gucken

27.01.2019

Autor: Nick Thräne

Unser Sohn Tom hatte in jungen Jahren auf Autofahrten ein Blasenproblem. Eigentlich war es kein echtes Problem. Wir hatten es nur in den Jahren nicht geschafft, ihm beizubringen, dass man nicht notgedrungen an jeder Raststätte pinkeln gehen muss. Okay, erzieherisch sind wir an der Stelle klar gescheitert. Dafür haben wir festgestellt, dass "Urlauber an Raststätten gucken" viel mehr Spaß macht als so manche Fernsehkomödie.


Unsere "Raststätten-Urlaubergucken-Top-5":


Platz 5

Auf Raststätten gibt es mehr Pärchen mit Hund als mit Kindern. Und erst nachdem Frauchen den Hund geküsst hat, bekommt auch der Mann einen Kuss.


Platz 4

Bei Rasthoftoiletten mit Geldschranke, sprich: "Sanifairtoiletten", hat sich der "Eintrittspreis" vor einigen Jahren verteuert. Anstatt mit 50 Cent die Schranke zur Erleichterung zu öffnen, muss man nun 70 Cent in den Automaten werfen. 

Die meisten Reisenden haben sich gewohnheitsgemäß aber lediglich mit 50 Cent auf den Akt der Ausscheidung vorbereitet. Der Gewohnheit folgend werfen sie ihre 50 Cent ein, lehnen sich gegen die Drehkreuzschranke und warten auf freie Bahn. Die Schranke hingegen bleibt verschlossen. Daraufhin brechen sie den Vorgang per Knopfdruck ab und bekommen vom Automaten ihr Geldstück zurück, um es dann gleich noch mal zu versuchen, und noch mal, und noch mal, und noch mal ... bis sie das große grüne Schild entdecken: "Toilette 70 Cent". 

Dann ist meistens das Maß voll und es wird lautstark verkündet, dass 70 Cent eindeutig zu viel für "einmal klein" seien.

Die wegen dieses lautstark zum Ausdruck gebrachten Gefühl des Wuchers sogleich herbeigerufenen Toilettenpfleger lösen das Problem, lässig auf den Wischmopp gelehnt, mit einer Prioritätenabfrage: "Na, müssen Se nu uffs Klo oder nich'?"

In den meisten Fällen siegt Bedürfnis über Geiz.

Ein wundervolles Beispiel von lebenslangem Lernen auch in fortgeschrittenem Alter.


Platz 3

Das typische Dänemark-Reiseauto ist ein Kombi oder ein Minivan, mit ein bis zwei Jetbags auf dem Dach, zwei Erwachsenen, mindestens zwei Kindern, mindestens einem Hund, ein sichtbar buntes Taschen- und Müllbeutellager im hinteren Fenster und Fahrräder für alle Mitreisenden, die rings ums Auto geschnürt sind.

Beim Öffnen der Kofferklappe werden riesige Speiseöllager, Küchenrollen und Fritteusen sichtbar. Da sagt man sich: "Is' klar - zwei Wochen Urlaub. Zwei Wochen Pommes. 12 Kilo Gewichtszunahme. Das sind Ferien."

Der Auspuff der Selbstversorger dient als Stützrad, um den ansonsten unvermeidlichen Hinterachsenbruch zu verhindern.


Platz 2

Zwei Reisebusse erreichten parallel die Raststätte und hielten direkt nebeneinander. Die Türen gingen auf.

Aus dem einen Bus ergossen sich lavaähnlich gefühlte 150 Ruheständler.

Aus dem anderen Bus schnatterten sich in Hühnerstallmanier 12- bis 15-jährige Mädchen heraus.

Beiden Generationen stand die gleiche Absicht auf die Stirn geschrieben: "Keramikabteilung".

Die Gegner nahmen Aufstellung.

Während die Hühnerfraktion schon mal auf ihrem Handy die kürzeste Wegstrecke errechnen ließ, brachten die Graumelierten ihre Gehhilfen in Position. Das scheinbar ungleiche Rennen endete mit einem eindeutigen Sieg für das Rentnerkommando. Durch militärische Geschlossenheit, geschickten Einsatz der Rollatoren und Gehstöcke sowie das sichere Wissen, nicht so lange aufhalten zu können wie die Mädchen, erkämpfte sich die altersweise Fraktion die ersten 100 Meter in der Warteschlange vorm Klo.


Platz 1

Vor der Raststätte stand eine Frau mit ihrem etwa zweijährigen Sohn. Das Kind wirkte leicht lethargisch. Seine Mutter hingegen schien aufs Äußerste angespannt. Sie schaute unentwegt in alle Richtungen, als würde sie auf jemanden warten.

Kopfschüttelnd begann sie beruhigend auf ihr Kind einzureden: "Es ist alles in Ordnung, Richard, gleich ist der Gregor da, und dann geht es auch schon los, dann geht der Gregor mit dir auf die Toilette." Richard glotzte mit einem weit entfernten Blick durch seine Mutter hindurch.

Richardmutter hingegen deutete den Gesichtsausdruck ihres intellektuellen Lebensmittelpunktes scheinbar als fortschreitende Verzweiflung. Sie nahm ihn auf den Arm, wiegte ihn hin und her und murmelte beschwichtigende Tantras. Richard hing da wie ein Schluck Wasser und ließ die Prozedur über sich ergehen.

Weitere 5 Minuten später erschien dann Gregor im Laufschritt. Richardmutter verfärbte sich bei seinem Anblick dunkelrot und eröffnete ein verbales Trommelfeuer über Gregor: Habe er denn gänzlich vergessen, wie wichtig es für Richards Entwicklung sei, dass er von seinem Vater lerne, auf die Herrentoilette zu gehen? Und könne er sich denn nicht einmal um sein Kind so kümmern, wie sie es nun schon hundertmal diskutiert hätten?

Gregor schnauzte zurück, dass er doch erst einen Parkplatz habe finden müssen.

Der bei dem mittlerweile heftigen Streit längst vergessene Richard hatte sich indessen völlig unbemerkt auf den Weg zu den Hundenäpfen vor der Raststätteneingangstür gemacht. Den einen Napf hatte er sich samt Inhalt auf den Kopf gesetzt und einen anderen leckte er genüsslich sauber. Dabei sah er glücklich und zufrieden aus.

Zwar hatte Richard nicht gelernt, auf die Herrentoilette zu gehen, aber er wusste nun, wie man an Raststätten überlebt.